Sensation der Stromlinie: 80 Jahre Volvo PV36 Carioca

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  • Futuristische Limousine, die ihrer Zeit weit voraus fuhr
  • Automobiler Trendsetter und Meilenstein der Designgeschichte
  • Kleinserienmodell ebnete Volvo den Weg zum Volumenhersteller

Schwechat. Er wirkte kühn wie ein Concept Car und ließ alle etablierten Limousinen schlagartig alt aussehen: Der stromlinienförmige Volvo PV36 Carioca war ein Auto von Morgen und demonstrierte das bereits durch seine Modellbezeichnung. So stand Volvo PV36 für PersonVagnar (Personenwagen) 1936, dabei wurde dieser Volvo bereits zum Modelljahr 1935 eingeführt. Die spektakulär gezeichnete Sechszylinder-Limousine mit vier an den B-Säulen aufgehängten Türen und vorderer Einzelradaufhängung setzte Maßstäbe im Bereich Fahrkomfort und -dynamik.

Mutige Entscheidungen werden manchmal erst später belohnt, eine Erfahrung, die Volvo vor 80 Jahren machen musste. So wurden vom avantgardistischen Volvo PV36 Carioca in den Jahren 1935 bis 1938 lediglich 500 Limousinen und nur ein Cabriolet verkauft, während die parallel angebotenen traditionellen Modellreihen der schwedischen Premiummarke weltweit wesentlich erfolgreicher waren. Dennoch wird der für damalige Zeiten futuristische Volvo PV36 Carioca global als Meilenstein der Designgeschichte gefeiert, da er die europäische Stromlinienform als eigenständiges Konzept zu einem ersten Höhepunkt führte und nicht wie mancher Wettbewerber lediglich amerikanische Aerodynamik-Vorbilder kopierte. Zudem wies die innovative Sechszylinder-Limousine Volvo erfolgreich den Weg zum Volumenhersteller unter den Premiummarken. Konnte doch der schon 1936 nachfolgende, kompaktere und erschwinglichere Volvo PV51 wesentliche Ideen des Volvo PV36 Carioca adaptieren.

Vom Wind geformt und mit tänzerischer Leichtigkeit

Stilvolle Karosserien mit klassischen Linien und kräftigen Sechszylinder-Motoren, dafür war die schwedische Premiummarke Mitte der 1930er Jahre bereits weltweit bekannt. Frischen Schwung für größere Stückzahlen sollte nun das erste Modell mit aerodynamischen Linien bringen. Für die Abkehr von der traditionellen Formgebung zeichnete der geniale Automobilkonstrukteur Ivan Örnberg verantwortlich, der ab 1931 die Entwicklung neuer Volvo Modelle wie des Volvo PV36 leitete. Stromliniendesign für geringen Kraftstoffverbrauch und hohes Tempo auf den neuen Schnellstraßen war damals der meistdiskutierte automobile Trend.

Ivan Örnberg entwickelte den Volvo PV36 Carioca als vollkommen eigenständigen europäischen Trendsetter, den seine Fans sofort liebevoll Carioca nannten – nach dem gleichnamigen schwungvollen südamerikanischen Modetanz. Schließlich sollte der "vom Wind" gezeichnete Volvo PV36 Carioca die Autowelt ähnlich durchwirbeln wie die Hollywood-Stars Fred Astaire und Ginger Rogers im Jahr 1933 die Kinowelt, als sie im Film "Flying down to Rio" erstmals den Carioca tanzten.

Ganz so schwungvoll war der Marktstart des Volvo PV36 Carioca dann aber doch nicht. Tatsächlich teilte er das Schicksal fast aller extremen Stromlinienfahrzeuge jener Zeit, deren Formen schlicht noch zu gewöhnungsbedürftig für den Massengeschmack waren. Hinzu kam: Der Volvo PV36 Carioca war mit einem Preis von 8.500 schwedischen Kronen für eine mittelgroße Sechszylinder-Limousine relativ teuer, gab es für diesen Betrag vom Wettbewerb doch bereits V8-Modelle der Oberklasse.

Vom Trendsetter zum gesuchten Sammlerfahrzeug

Nicht nur in der aerodynamischen Formensprache fuhr der Volvo PV36 Carioca fast allen zeitgenössischen Konkurrenten voraus, auch unter der Karosserie wagte er sich auf technisches Neuland. So führte der Volvo PV36 Carioca die vordere Einzelradaufhängung ein, die der, auch in gehobenen Klassen noch immer verbreiteten Starrachse, weit überlegen war. Tatsächlich setzte der Volvo bei Fahrkomfort und Fahrdynamik neue Maßstäbe, die von der Fachpresse gewürdigt wurden und die ebenfalls dazu beitrugen, dass die schwedische Polizei gleich 18 Volvo PV36 Carioca als Einsatzfahrzeuge kaufte.

Dank eines 59 kW/80 PS starken 3,7-Liter-Reihensechszylinders lag die Höchstgeschwindigkeit bei sehr beachtlichen 120 km/h, die Beschleunigungswerte entsprachen allerdings nicht ganz den Erwartungen. Eine Folge des schwergewichtigen, massiven Rahmens mit Kreuzverstärkungen, der den Volvo jedoch zu einem der sichersten Fahrzeuge seiner Klasse machte.

Darüber hinaus machte die Karosserie mit weiteren Neuheiten Schlagzeilen. Zum einen war dies der in die Karosserie integrierte Kofferraum, der die bisher üblichen aufgesetzten Kofferabteile ersetzte. Das Gepäck war jetzt staubsicher untergebracht – auf den damaligen Landstraßen ohne Asphaltdecke ein durchaus wichtiger Aspekt – und die Karosserielinie wirkte harmonischer. Dazu trugen auch die an der B-Säule angeschlagenen vorderen und hinteren Türen bei. Darüber hinaus verfügte der Volvo PV36 Carioca als erstes Fahrzeug der Marke über eine Karosserie aus gepresstem Stahl, ein wichtiger Schritt in Richtung Großserie. Nur das Dach konnte noch nicht in einem Stück gepresst werden und bestand deshalb aus konventionellem Pegamoid (eine Lederimitation). Der Sprung zur Vollstahlkarosserie gelang Volvo aber schon mit der nächsten Fahrzeuggeneration – mit den ab 1936 eingeführten, preisgünstigeren Typen Volvo PV51 und Volvo PV52. Diese kombinierten die aufregende Heckgestaltung des Volvo PV36 Carioca mit einer eher traditionellen Volvo Front und machten Volvo startklar für die neue Ära als Großserienproduzent.

Erst im September 1938 wurde der letzte Volvo PV36 Carioca gebaut und nach Teheran in den Iran überführt, wo er vom schwedischen Botschafter eingesetzt wurde. Was dem Trendsetter während seiner Produktionszeit verwehrt blieb, begann in den Nachkriegsjahren: Der Volvo PV36 Carioca wurde ein gesuchtes Liebhaberfahrzeug, für das Enthusiasten bereitwillig Höchstbeträge zahlen. Etwa 25 Volvo PV36 Carioca sollen bis heute existieren, seltenstes Fahrzeug war von Anfang an ein als Einzelstück beim schwedischen Karossier Nordbergs Vagnfabrik gebautes Cabriolet.